Betriebsausflug

Der neue Duft der Emscher

Er galt lange als „Kloake des Ruhrgebiets“, doch jetzt ist der gut 80 Kilometer lange Fluss zwischen Holzwickede und Dinslaken frei von Abwasser. Alteingesessene Revierler freut die zunehmende Renaturierung – der Wandel ihrer Quartiere bereitet aber auch Sorgen.

Betriebsauflug an die Emscher
Foto: © Moritz Küstner

An der neuen Mündung in Dinslaken-Voerde sieht Reinhold Adam die Enten mit eigenen Augen. Sie schwimmen zahlreich in der munter dahinplätschernden Emscher, die hier raus darf aus dem Korsett der Industrialisierung, das sie seit mehr als 100 Jahren in schnurgerade Form presst. Der Fluss breitet sich aus, schlängelt sich über mehrere Arme in den Rhein. Die Auenlandschaft, die hier wie das Flussbett neu geschaffen werden soll, ist allerdings noch eine Großbaustelle. Es herrscht geschäftiges Treiben, Bagger bewegen riesige Mengen Erdreich. Braun ist die dominierende Farbe, wo in naher Zukunft ein grünes Idyll Ruhesuchenden eine Auszeit vom Großstadttrubel bieten soll.

Hier kann man die Emscher-Renaturierung in ihrer finalen Phase beobachten. Seit 1992 läuft das Projekt, aus dem Abwasser­kanal der einstigen Bergwerks­region wieder einen natürlichen Fluss mit Naherholungswert zu machen. Die Emschergenossenschaft beziffert die Gesamtinvestition in den Emscherumbau auf 5,5 Milliarden Euro. Vier neue Großklärwerke und 430 Kilometer an neuen unterirdischen Abwasserkanälen seien gebaut, mehr als 170 Kilometer an der Emscher und ihren Zuflüssen renaturiert und 130 Kilometer an neuen Radwegen angelegt worden. Seit 2022 ist die Emscher vollständig von Abwasser befreit – die komplette Renaturierung soll 2027 abgeschlossen sein.

Abenteuerspielplatz „Köttelbecke“

Bislang hatte Adam nur davon gehört, dass die Wasservögel Gefallen finden am Wandel. Bei ihm in Gelsenkirchen-Horst ist die Emscher noch die tierfreie Rinne, die der heute 77 Jahre alte Bergmannssohn aus seiner Kindheit kennt. Mit einem Unterschied: Es stinkt nicht mehr. Als Junge ist Adam in Gummistiefeln durch die Emscherzuflüsse, sogenannte „Köttel­becke“, geschlittert. Sie waren nicht weniger geruchsintensiv als die Emscher selbst, die als „Kloake des Ruhrgebiets“ bezeichnet wurde. Adam und seine Freunde störte das nicht, „die ‚Köttelbecke‘ waren unser Abenteuerspielplatz“, sagt er. Sie waren Heimat, Teil des Reviers wie die Steinkohlezechen, in denen erst die Väter und später sie selbst für den Lebensunterhalt der Familien schufteten.

Thomas Prinz, wie Adam ehemaliger Bergarbeiter und IGBCE-Mitglied, aber 22 Jahre jünger, blickt von der Aussichtsplattform des Nordsternturms hinunter. „Die Leute meinen immer, alles sei grau und schwarz hier bei uns“, sagt er. „Aber der Ruhrpott ist eine grüne Metropole.“ Eine, in der sich ein Besuch lohnt. Seit Ende 2018 wird hier keine Steinkohle mehr gefördert, und an der Emscher, etwa auf einer Tour entlang des neu angelegten Radwegs von der Quelle in Holzwickede bis zur Mündung, kann der fortschreitende Strukturwandel hautnah erlebt werden. Kaum zu glauben, aber der Emscherumbau ist eines der größten Infrastrukturprojekte Europas und ein Paradebeispiel für andere Bergbauregionen, wie der Mensch von ihm zerstörte Natur wieder heilen und aus einem Industrierevier eine lebenswerte Region mit viel Grün und Kultur entstehen lassen kann.

Reinhold Adam (r.) und Thomas Prinz sehen den Wandel der Region positiv.

Reinhold Adam (r.) und Thomas Prinz sehen den Wandel der Region positiv.

Foto: © Moritz Küstner

Prinz ist in Herten-Süd aufgewachsen und hat in der Zeche Ewald gearbeitet. Heute liegt sein ehemaliger Arbeitsplatz an der Route Industriekultur, die Industriedenkmäler des Ruhrgebiets auf einer Strecke von 400 Kilometern verbindet. In der interaktiven Ausstellung „Neue Horizonte – Auf den Spuren der Zeit“ etwa werden in der ehemaligen Zeche Ewald die Themen Energie, Jahreszeiten, Planeten sowie Fakten zu dem auf der Halde Hoheward gelegenen, weithin sichtbare Horizont-Observatorium und der Sonnenuhr erklärt. Auch die denkmalgeschützte Zechenanlage ist einen Ausflug wert.

Reinhold Adam, der seine Bergmannslehre mit 14 Jahren in der Zeche Nordstern begann, führt heute Gruppen durch den schön gestalteten Nordsternpark. Er erzählt Bergbaugeschichten aus erster Hand, flucht über die Herkules-Figur („Seelenlos!“) auf dem Dach des Nordsternturms und erfreut sich am neuen Duft der Emscher. Der Wandel lässt Thomas Prinz gar träumen: „Irgendwann mal hier vor der Haustür einen Aal oder einen Hecht aus der Emscher zu ziehen, das würde ich mir wünschen.

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Weinreben im Ruhrgebiet

Einst mäanderte der Fluss in zahlreichen Windungen durch eine landwirtschaftlich geprägte Region. Das Gefälle in Richtung Rhein war gering, deshalb kam es immer wieder zu Überschwemmungen. Diese wurden zum Problem, als Mitte des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung begann. Zechen, Hüttenwerke, wachsenden Städte – den Menschen gefiel es nicht, wenn sie im Wasser standen, zumal im eigenen Abwasser, das bedenkenlos in die Emscher geleitet wurde. Der Bergbau verursachte außerdem Absenkungen des Erdreichs, in denen das Wasser vor sich hin faulte und den Ausbruch von Infektionskrankheiten ­begünstigte.

Die 1899 gegründete Emschergenossenschaft machte schließlich aus dem 109 Kilometer langen Fluss einen nur noch etwas mehr als 80 Kilometer langen, tiefer gelegten, begradigten, betonierten und mit Deichen eingefassten offenen Abwasserkanal. Erst mit dem Ende des Bergbaus und den damit verbundenen Erdabsenkungen wurde es möglich, ein eigenständiges unterirdisches Rohrsystem für das Abwasser zu bauen.

Von Menschenhand geformt: Begradigte Flussabschnitte gibt es auch heute noch.

Von Menschenhand geformt: Begradigte Flussabschnitte gibt es auch heute noch.

Foto: © Moritz Küstner

Am Phoenix-See lässt sich bereits bewundern, was die Renaturierung bewirkt. 160 Jahre lang wurde in Dortmund-Hörde Stahl gekocht, die Emscher floss eingeschlossen unter dem Werksgelände hindurch. Seit Ende 2009 sucht sich der wieder ans Tageslicht geholte Fluss seinen Weg am Nordrand des Geländes. Üppiges Grün säumt den Verlauf, Enten, Gänse und sogar Fischreiher gibt es hier reichlich. Auf der übrigen Fläche ist der rund 24 Hektar große Freizeitsee entstanden. Hier spazieren, radeln oder skaten Menschen auf frisch angelegten Wegen. Ein Hang mit Weinreben sorgt für französisches Flair, zahlreiche Cafés und Restaurants laden am Südufer zum Verweilen ein.

Drum herum ist ein schickes Wohn- und Büroquartier entstanden. Hübsch anzusehen, aber für die Urruhrpöttler und Gewerkschafter Reinhold Adam und Thomas Prinz ein Grund zur Sorge. „Das sind keine Häuser für Rentner“, sagt Adam, der in Gelsenkirchen-Horst ein altes Bergmannshäuschen bewohnt. „Den Wandel finde ich gut“, betont der 77-Jährige, „aber ich habe ein bisschen Angst, dass unsere Region, die früher von vielen gemieden wurde, uns jetzt von reichen Leuten weggenommen wird.“ Aber die Enten heißt Adam willkommen. Genauso wie alle Besucherinnen und Besucher, die sich für den Wandel interessieren und an der neuen Emscher Erholung suchen.

Guide: Die Emscher

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