Betriebsausflug

Strahlende Geschichte

Zwanzig Kilometer von Greifswald entfernt sollte vor der Wende eines der größten Kernkraftwerke der Welt entstehen. Die Pläne sind Geschichte, die Meiler stehen still. Heute können Besucherinnen und Besucher hier einen Blick in das Innere eines Reaktors werfen. IGBCE-Mitglied Hartmut Schindel nimmt uns mit.

Die Blöcke 5 (rechts) und 6 des Atomkraftwerks Greifswald.

Die Blöcke 5 (rechts) und 6 des Atomkraftwerks Greifswald.

Foto: © Roman Pawlowski

Hartmut Schindel sucht nach einer gemeinsamen Sprache. Der 64-Jährige steht im Informationszentrum des Kernkraftwerks Greifswald, vor ihm eine elfköpfige Gruppe aus Studierenden und einem Rentnerehepaar. Zwischen ihnen eine gelbe, schulterhohe Tonne – das Modell eines Behälters für abgebrannte Brennelemente. „Wir sprechen von hoch radioaktiven Abfällen“, sagt Schindel und zeigt auf den gerippten Miniaturcastor. Daneben gibt es mittel- und schwach radioaktives Material. Das darf in normale Metallfässer. „Nur etwa fünf Prozent der Abfälle sind hoch radioaktiv. Sie machen aber rund 99 Prozent der gesamten Radioaktivität eines Kernkraftwerks aus.“

Aufklären und damit Ängste nehmen, darum wird es dem Gästeführer in den kommenden zweieinhalb Stunden gehen. „Wir wollen nicht überzeugen, sondern Wissen vermitteln“, bringt es Schindel auf den Punkt. „Was manchmal in den Nachrichten kommt, ist so weit weg von der Realität, dass es wehtut.“

Eines der größten Kernkraftwerke

Das Informationszentrum ist der Startpunkt einer Führung durch ein Atomkraftwerk (AKW) der damaligen DDR, das einst VE Kombinat Kernkraftwerke „Bruno Leuschner“ Greifswald hieß. Nach der Wende wurden die vier aktiven Reaktoren russischer Bauart stillgelegt.

Hätte die SED-Führung weiter das Sagen gehabt, wären auf dem Gelände zwischen Lubmin und Freest vier weitere Blöcke ans Netz gegangen. Damit stünde heute an der Ostsee eines der größten Kernkraftwerke der Welt. Arbeiterinnen und Arbeiter errichteten bereits die Hüllen der Meiler 7 und 8, Reaktor 5 befand sich im Testbetrieb, Block 6 war zu 90 Prozent fertiggestellt. Die Brennstäbe fehlten allerdings noch. Ein Glücksfall für die aktuelle Nutzung: Die Anlage ist nicht kontaminiert, sodass Besucherinnen und Besucher ohne Strahlenschutz hineindürfen.

Über das Betriebsgelände führt Schindel die Gruppe zum Reaktor 6. Der Weg geht vorbei an den einst aktiven Meilern, die ab den 1970er-Jahren den Norden der DDR mit Strom versorgten. Die Anlagen sind entkernt. Fachkräfte untersuchen im Inneren jeden Zentimeter der Wände auf Strahlung, ehe sie Schicht für Schicht abtragen. Eine Mammutaufgabe: Etwa 30 Jahre wird es noch dauern, bis auf dem Gelände kein Gebäude mehr zu sehen ist. Weitere 50 Jahre, bis die Stoffe recycelt und sicher entsorgt sind. Solange die Suche nach einem Endlager für hoch radioaktiven Abfall andauert, lagern kleinwagengroße Castorbehälter mit Brennstäben auf dem Gelände des AKW.

Gästeroute dank Expo 2000

Am Reaktor 6 ist vom Rückbau nichts zu sehen. Über einen Seiteneingang betreten die Besucherinnen und Besucher den Klotz aus meterdickem Stahlbeton. Das Innere ist grau in grau, eine Neonröhre spendet grelles Licht. Ein vergessener Ort, der fast täglich von Touristinnen und Touristen besucht wird. „So wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Kraftwerks damals unterwegs waren, sind es die Besucherinnen und Besucher heute“, sagt Schindel.

Mit hallenden Schritten geht es über den früheren Fluchtweg ins Innere des AKW. Durch eine massive Stahltür hindurch betreten die Gäste den Geberraum. Edelstahlrohre winden sich von der Decke Richtung Boden, unterbrochen von Hebeln und Messgeräten. Laut Bauplan sollte hier der Druck weitergeleitet werden, mit dem das Wasser die Brennstäbe umspült. Nur wenn der hoch genug ist, verdampft die Flüssigkeit trotz einer Temperatur von 300 Grad Celsius nicht. Das ganze Konstrukt wird daher Druckwasserreaktor genannt. In aktiven Kraftwerken wird die Wärme außerhalb des Reaktors an einen zweiten Wasserkreislauf abgegeben. Der dort entstehende Dampf treibt eine Turbine an, die Strom erzeugt.

Wie das Herz eines AKW ausschaut, möchte Schindel jetzt zeigen. Über schmale Treppenstufen geht es hinauf zum Reaktor – ein Bereich, der sonst nur unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen betreten werden darf. Mehr noch: Durch eine Luke können die Gäste ins Innere des Reaktors schauen. Im Normalfall undenkbar.

Kernkraftwerk Greifswald

Zu verdanken ist dieses einmalige Erlebnis der Expo 2000. Im Zuge der Weltausstellung in Hannover richtete der Eigentümer des Kernkraftwerks, das Entsorgungswerk für Nuklearanlagen (EWN), die Besuchsroute ein. „Block 6 wäre sonst ein Schrottplatz“, erzählt Schindel.

Ob das so bleibt, ist ungewiss. Der Auftrag der EWN ist der Rückbau des AKW, nicht die Errichtung einer touristischen Attraktion. Entsprechend müsste sich der Status des Meilers ändern – von einer Altanlage hin zu einem technischen Denkmal. Ein Lokalpolitiker der Grünen hat dafür einen Antrag eingereicht. Wird er bewilligt, bedeutet das nicht nur Bestandsschutz, sondern auch Geld für den touristischen Ausbau. „Vielleicht kann man dann in den Reaktor hineingehen. Das wäre der Oberhammer“, sagt Schindel.

Aderlass in der Region

Der gelernte Maschinist für Kernkraft-Energie-Anlagen hat die Höhen und Tiefen der Atomkraft hautnah miterlebt. Zu DDR-Zeiten galt sie als Fortschrittstechnologie, fast die Hälfte des Energiebedarfs sollte damit gedeckt werden. Die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl und ein Brand im Maschinenraum des Blocks 1, bei dem es im AKW Greifswald fast zur Katastrophe gekommen wäre, änderten nichts an den Plänen.

Nach der Wende traten die Mängel der Meiler zutage; eine Stilllegung der Blöcke 1 bis 4 war unvermeidlich. Das sieht Schindel genauso. Unklar ist für ihn, warum die vier neuen Reaktoren trotz höherer Sicherheitsstandards nicht fertiggestellt wurden: „Viele baugleiche Anlagen waren in der ehemaligen Sowjetunion noch lange in Betrieb.“ Mit der Stilllegung brachen harte Zeiten über die Region herein: Von den über 10.000 Mitarbeitenden verloren fast 8.300 ihre Arbeit. „Das war ein Aderlass“, sagt Schindel.

Hartmut Schindel, Gästeführer der EWN GmbH

Hartmut Schindel
Foto: © Roman Pawlowski

„Wir wollen Wissen vermitteln.“

Aufgrund seines Jobs in der Entsorgung durfte er bleiben. Im Betriebsrat verhandelte das IGBCE-Mitglied die Sozialpläne für die entlassenen Kolleginnen und Kollegen mit. Später wechselte Schindel in die Kommunikationsabteilung, wo er seitdem Besuchstouren verantwortete. Im Februar geht er in Rente. Mit dem Kraftwerk bleibt er trotzdem verbunden: Um seine Kolleginnen und Kollegen zu unterstützen, wird Schindel weiterhin einzelne Gruppen durch Block 6 begleiten.

Gefragtes Wissen

Der Generationenwechsel ist bei EWN in vollem Gang. Das staatseigene Unternehmen beschäftigt 1.040 Menschen. Entlassungen sind kein Thema mehr, im Gegenteil: EWN sucht Fachkräfte. Sie sollen die Anlagen in der Nähe von Greifswald und ein weiteres AKW in Rheinsberg (Brandenburg) in den nächsten Jahren zurückbauen. Außerdem ist das Unternehmen spezialisiert auf die Zerlegung von Reaktoren und das Verschließen von Castoren. Seit dem endgültigen Atomausstieg im April 2023 werden diese Fähigkeiten überall gebraucht.

Über ein Labyrinth an Wegen und Treppen führt Schindel die Gäste zurück zum Seiteneingang. Die Tour durch den Reaktor ist vorbei. Wieder unter freiem Himmel fällt der Blick auf ein eingerüstetes Gebäude in der Ferne. Dort entsteht laut Schindel „eines der sichersten Gebäude der Welt“, die Zerlegehalle. Ende dieses Jahres soll sie fertig sein. Im Inneren werden dann mit modernsten Methoden hoch radioaktive Reststoffe zerlegt.

Guide: Salzbergwerk

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