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Die Klagen und die Fakten

Glaubt man den Arbeitgebern, gibt es in dieser Chemie-Tarifrunde nichts zu verteilen. Wir haben die Argumente einem Gegencheck unterzogen. Und? Überraschung!  

Inflatable
Foto: © IGBCE/Lars Ruzic

„Die Klage ist des Kaufmanns Gruß“ lautet eine alte Weisheit der Geschäftswelt. Als sie formuliert wurde, dürfte es noch keine Arbeitgeberverbände gegeben haben. Denn sonst wäre der „Kaufmann“ sicherlich gegen den „Arbeitgeber“ ausgetauscht worden. Denn deren große Litanei wird regelmäßig vor Beginn der nächsten Tarifrunde angestimmt. 

Das ist in der Chemie nicht anders als in anderen Branchen. Nur dass in der aktuellen Tarifrunde für die 585.000 Beschäftigten das Wehklagen diesmal besonders früh einsetzt und besonders fundamental ausfällt. Wir haben uns einige der vorgebrachten Thesen und Daten genauer angeschaut – und versucht, das ganze Bild der Branche und ihrer Entgelte zu zeichnen. 

Nichts zu verteilen? An Aktionäre schon 

Für die Arbeitgeberseite ist klar: Die chemisch-pharmazeutische Industrie stecke tief in der Krise, alle Kennzahlen zeigten auf Rot, „wo keine Zuwächse sind, können wir keine verteilen“.  

Das ist nur die halbe Wahrheit. Die Umsätze der Branche sind nach Angaben des Branchenverbands VCI zwar um 12 Prozent auf rund 230 Milliarden Euro zurückgegangen – aber: Das ist für die deutsche Chemieindustrie noch immer der zweithöchste Umsatz aller Zeiten. Das gilt übrigens auch für die Erlöse pro Beschäftigtem. Heute erwirtschaftet jede und jeder Mitarbeitende in der Branche gut 481.000 Euro Umsatz pro Jahr und Kopf. Das ist in etwa so viel, wie zwei gut gehende Restaurants zusammen einnehmen. 

Umsatzentwicklung in der chemischen Industrie
Foto: © IGBCE/Markus Köpp

Die Unternehmen hatten in den vergangenen Jahren kräftig an der Preisschraube gedreht, sie sind zwischenzeitlich selbst zu entscheidenden Inflationstreibern geworden. Das ließ sich in der Stagnationsphase der vergangenen Monate nicht komplett durchhalten. Auch deshalb ist der Umsatz der Branche in 2023 stärker zurückgegangen als die Produktion (minus 8 Prozent). 

Dass es im Übrigen „nichts zu verteilen“ gäbe, scheinen die Unternehmen mit Blick auf ihre Anteilseigner anders zu sehen. Ein erster Blick in die bislang vorliegenden Dividenden-Ankündigungen der in DAX und M-DAX notierten Konzerne, die nach Chemie-Tarifvertrag zahlen, zeigt: Von einem Dutzend Unternehmen schüttet lediglich eines keine Dividende aus, vier weitere haben sie – teils aus Gründen, die nichts mit dem operativen Geschäft zu tun haben – reduziert. 

Ansonsten aber herrscht bei den Branchengrößen mehrheitlich Konstanz auf hohem Niveau, ja sogar Feierlaune: Vier Unternehmen werden in diesem Frühjahr eine gleichhohe Dividende auszahlen wie für das Vorjahr. Drei Konzerne (Beiersdorf, Continental, Rheinmetall) heben sie sogar deutlich an. Beiersdorf wird zudem eigene Aktien zurückkaufen – ein klassisches Instrument, zu dem man greift, wenn man nicht weiß, wohin mit dem Geld. 

Dividendenentwicklung
Foto: © IGBCE/Markus Köpp

„Hoffnung auf baldiges Ende der Talsohle“ 

Das bestätigt eine Tendenz, auf die die IGBCE schon vor Monaten hingewiesen hat. Die Lage in der chemisch-pharmazeutischen Industrie ist divers wie selten. Probleme hat vor allem die energieintensive Grundstoffchemie, dagegen laufen die Geschäfte bei vielen Pharma-Unternehmen und bei Markenartiklern glänzend. Man kann nicht alle über einen Kamm scheren und die Zukunft pauschal tiefschwarz malen. 

Zumal sich selbst für die von der Konjunkturschwäche getroffenen Bereiche in der Chemie erste Aufhellungen am Horizont zeigen. Die aktuelle Geschäftslage der Branche habe sich leicht verbessert, teilte unlängst das Münchener ifo-Institut mit. „Das Klima in der deutschen Chemie ist zwar immer noch rau, es gab aber auch einige überraschende Lichtblicke“, sagte Branchenexpertin Anna Wolf. 

So sei erstmals seit fast zwei Jahren die Nachfrage nach Chemieerzeugnissen wieder gestiegen, und es gab mehr Aufträge als im Vormonat. Die Chemie-Unternehmen haben im Februar ihre Produktion ausgeweitet. Auch sehen erste Unternehmen von weiteren Preissenkungen ab. „Diese Ergebnisse zusammen mit der Normalisierung bei den Strom- und Gaspreisen wecken die Hoffnung auf ein baldiges Ende der Talsohle“, so ifo-Expertin Wolf. 

„Spitzeneinkommen“? – Spitzenleistung! 

In die Irre führt auch die Arbeitgeber-Argumentation, die Beschäftigten in der Chemie hätten gar keine Entgelterhöhung nötig. Ihre Reallöhne würden in 2024 schon deshalb steigen, weil sie zu Jahresbeginn die zweite Erhöhung aus dem Tarifabschluss von 2022 bekommen hätten. 

Hier wird die Argumentation offensichtlich bewusst verkürzt. Richtig ist, dass die Tarifabschlüsse aus 2022 für die Gesamtlaufzeit der Vereinbarungen gerechnet werden müssen, also für die Zeit vom April 2022 bis Juni 2024. Und in diesem Zeitraum werden die Verbraucherpreise um gut 12,6 Prozent zugelegt haben, die Entgelte jedoch nur um 6,6 Prozent. 

Die Lücke konnte durch Einmalzahlungen wie die Inflationsausgleichsprämie zwar überbrückt werden. Deren Wirkung ist jedoch längst verpufft. Um aus dem Provisorium eine nachhaltige Anpassung der Entgelte zu machen, bedarf es genau der 6 bis 7 Prozent tabellenwirksamer Erhöhung, die die Forderungsempfehlung des IGBCE-Hauptvorstands vorsieht. Es geht also mindestens darum, die Reallohnverluste der vergangenen Monate aufzufangen. Kein Wunder also, dass IGBCE-Verhandlungsführer Oliver Heinrich von einer Empfehlung „mit Maß und Mitte“ spricht. 

Gern und regelmäßig tun die Arbeitgeber so, als wüssten die Chemie-Beschäftigten vor lauter Top-Verdiensten gar nicht, wohin mit dem Geld. Von einem „Spitzeneinkommen“ spricht der Arbeitgeberverband BAVC, im Vergleich zu anderen Branchen stünden die Beschäftigten „sehr gut da“. Tarifbeschäftigte erhielten im Durchschnitt 73.000 Euro im Jahr. Eine Zahl, die nur durch das Hereinrechnen übertariflicher Zulagen und von Schichtzulagen zustande kommen kann. Aus Sicht der IGBCE liegt der durchschnittliche Tariflohn in der Chemie bei 65.500 Euro pro Jahr. Das ist ein guter Wert und beharrlicher Tarifpolitik zu verdanken. Aber es ist alles andere als „Spitze“ – zumal andere Branchen in der jüngeren Vergangenheit aufgeholt haben. 

Zumal man diesen Wert auch in Beziehung setzen muss zur Wertschöpfung, die Chemiebeschäftigte erbringen. Die oben genannten 481.000 Euro Umsatz pro Beschäftigtem entsprechen über 100.000 Euro mehr als dem Pro-Kopf-Umsatz im verarbeitenden Gewerbe insgesamt. Das Entgelt ist also in jeder Hinsicht verdient. Und stellt übrigens für die Chemie-Arbeitgeber eine weit geringere Belastung dar als die Entgelte für Betriebe in anderen Branchen tun. Dort können sie nicht selten die Hälfte des Umsatzes eines Betriebs ausmachen. In der Chemie liegt der Lohnkostenanteil bei gerade einem Siebtel. Auch das sollte man wissen, will man das Wehklagen der Arbeitgeber einordnen können. 

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