Industriestandort

"Wir brauchen einen industriepolitischen Befreiungsschlag"

Deutschland gerät bei den Standortbedingungen für die Industrie immer stärker ins Hintertreffen. Doch bei ihrer Kabinettsklausur in Meseberg hat die Bundesregierung das Thema nur mit spitzen Fingern angefasst – der industriepolitische Befreiungsschlag ist ausgeblieben. Genau dafür setzt sich die IGBCE gerade in starken Allianzen ein. So fordert sie in der "Allianz pro Brückenstrompreis" einen international wettbewerbsfähigen Industriestrompreis, will gemeinsam mit den Chemie-Bundesländern die Rahmenbedingungen für die Branche verbessern und trifft sich Ende September mit dem Bundeskanzler zum Chemie-Gipfel. „Wir müssen alle Hebel in Bewegung setzen“, sagt IGBCE-Chef Michael Vassiliadis.

Energieintensive Industrien
Foto: © Frank Rogner

Die Regierung habe mit den Beschlüssen von Meseberg „erste Schritte zur Verbesserung der Standortbedingungen gemacht“, sagte Vassiliadis. „Aber das letzte Wort dazu kann und darf das nicht gewesen sein“, mahnte er. Maßnahmen wie Investitionsbeihilfen für Transformationsprojekte oder verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten seien in der Sache zwar richtig. „Sie fallen im Vergleich zu anderen Industrienationen jedoch zu zaghaft aus“, so der IGBCE-Vorsitzende. Was es nun brauche, sei ein „industriepolitischer Befreiungsschlag, der uns international wieder auf Augenhöhe mit anderen Regionen bringt – und zwar schnell und nachhaltig zugleich“.

Dazu gehöre „für die energieintensiven Industrien ein Brückenstrompreis, der wie eine massive Anschubhilfe für die klimagerechte Modernisierung wirkt“, erklärte Vassiliadis. „Wir müssen alle Hebel in Bewegung setzen, damit die Branche jetzt in die Transformation der heimischen Standorte investiert – und nicht ins Ausland abwandert.“ Nur so seien der Erhalt guter Arbeitsplätze, eine sichere Versorgung anderer Industrien und Fortschritte im Klimaschutz garantiert.

Die Ampelregierung unter Bundeskanzler Olaf Scholz hatte bei der traditionellen Klausur in Meseberg unter anderem Eckpunkte für ein Wachstumschancengesetz beschlossen, das 50 steuerpolitische Maßnahmen beinhaltet, die die deutsche Wirtschaft entlasten soll. Darin enthalten sind Investitionsbeihilfen für Transformationsprojekte, verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten und Bürokratieabbau.

Chemiegipfel im Kanzleramt

Die IGBCE kämpft nun auf politischer Ebene weiter für Verbesserungen für ihre energieintensiven Industrien. So wird IGBCE-Chef Vassiliadis Ende September bei einem Treffen von Gewerkschaften, Unternehmen und Teilen der Bundesregierung im Bundeskanzleramt dabei sein – ebenso wie Vertreter von VCI, BAVC, Kanzler Olaf Scholz, Wirtschaftsminister Robert Habeck und weitere Bundesminister sowie Ministerpräsidenten und Unternehmenschefs. Dort soll über die Lage und Perspektiven der Chemie-Industrie gesprochen werden, die angesichts von überhöhten Energiepreisen, schwacher Konjunktur und komplizierter Regulierung enorm unter Druck steht.

Gleichzeitig unterstützt die IGBCE die „Allianz zum Erhalt der chemischen Industrie in Deutschland“ derjenigen Bundesländer, in denen die Branche eine entscheidende Bedeutung für Wachstum und Wohlstand hat. Sie haben ein Maßnahmenpaket geschnürt, um die Rahmenbedingungen für die Branche, die für die gesamte deutsche Volkswirtschaft so zentrale Bedeutung hat, zurück auf den Erfolgspfad zu führen. "Kaum eine Industrie ist so abhängig von politisch gesetzten Standortbedingungen", sagt Vassiliadis. "Deshalb ist es nur folgerichtig, dass die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten sich und andere in die Pflicht nehmen."

Allianz pro Brückenstrompreis

Zudem will die IGBCE in der kürzlich gegründeten Allianz pro Brückenstrompreis Druck für einen wirksamen Brückenstrompreis für energieintensive Industrien machen. Der Allianz angeschlossen haben sich neben IGBCE, IG Metall und DGB auch mehrere Verbände der energieintensiven Industrien, wie der VCI, die Papierindustrie, die Wirtschaftsvereinigung Metalle und der Bundesverband Glasindustrie. Die Mitglieder der Allianz vertreten insgesamt mehr als 1,1 Mio. Beschäftigte in mehr als achttausend Unternehmen. Insgesamt hängen laut einer aktuellen Studie bis zu 2,4 Mio. Arbeitsplätze und gut 240 Mrd. Euro Wertschöpfung an den Unternehmen der energieintensiven Branchen. Sie sichern Bund, Ländern und Kommunen mit jährlich rund 90 Milliarden Euro Steuerzahlungen und Sozialversicherungsbeiträgen hohe Einnahmen.

Die Mitglieder der Allianz sprechen sich für eine schnelle Lösung der derzeitigen Debatte um einen Brückenstrompreis aus. Es sei „fünf vor zwölf“ für die energieintensiven Industrien. Längst drohten Verlagerungen, Standortschließungen und der Verlust von Arbeitsplätzen.

Gemeinsam bekennen sie sich zum Industriestandort Deutschland und der Transformation zu einer klimaneutralen Produktion. Strom werde dabei immer wichtiger. Bis dieser in ausreichenden Mengen aus erneuerbaren Energien zur Verfügung stehe, sei ein wettbewerbsfähiger, zeitlich begrenzter Brückenstrompreis dringend notwendig. Nach monatelangem Hickhack müsse nun eine Entscheidung für die Zukunft der Industrie in Deutschland getroffen werden. Vor allem der Bundeskanzler müsse klar Stellung beziehen.

In gemeinsamen Schreiben an politisch Verantwortliche in Bund und Ländern kündigte die Allianz an, in den kommenden Tagen und Wochen das Gespräch mit Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten, Mitgliedern des Kabinetts sowie Abgeordneten in Bund und Ländern zu führen.

Energieintensive Industrie nicht einfach aufgeben

Vassiliadis warnt: „Die Energiekrise setzt den Standort Deutschland unter Handlungsdruck: Wir dürfen eine hochentwickelte Industrie mit Hunderttausenden gut bezahlten Arbeitsplätzen nicht einfach aufgeben – wir müssen sie intelligent weiterentwickeln.“ Einen Exodus der energieintensiven Betriebe könne Deutschland sich weder gesellschaftlich, noch volkswirtschaftlich oder klimapolitisch leisten. „Zu entscheidend sind sie für die Transformation der Industrie insgesamt“, unterstreicht er die Bedeutung der energieintensiven Betriebe. Es gelte jetzt, Deutschlands Stärken zu stärken und die Rahmenbedingungen für die energieintensive Industrie wieder auf Augenhöhe mit denen anderer Wirtschaftsnationen zu bringen. „Dazu gehört zuallererst ein fairer Strompreis. Von starken Energieintensiven profitiert die komplette industrielle Wertschöpfungskette – und damit schlussendlich das gesamte Land“, so Vassiliadis weiter.

„Unsere Industrie steht am Scheideweg. Das Haus brennt, und wir brauchen den Brückenstrompreis dringend als Löschwasser“, stimmt Markus Steilemann, Präsident des Verbandes der Chemischen Industrie, zu. „Wir wollen in Zukunft ein runderneuertes Haus präsentieren und keine Ruine beklagen“, erklärt er weiter. Auch der Präsident des Bundesverbandes Glasindustrie, Dr. Frank Heinricht, ist der Meinung, ein Brückenstrompreis ist unumgänglich: „Bis genügend Grünstrom zu wettbewerbsfähigen Bedingungen zur Verfügung steht, brauchen wir einen Brückenstrompreis, denn der Stromverbrauch wird durch Dekarbonisierungsmaßnahmen zunächst steigen, da Strom die Basis sowohl für die Elektrifizierung von Teilprozessen in der Glasproduktion als auch für den Einsatz von Wasserstoff durch Elektrolyse ist.“

Winfried Schaur, Präsident des Verbandes „Die Papierindustrie“, pflichtet bei: „Gerade in der energieintensiven Papiererzeugung spielen eine bezahlbare und sichere Energieversorgung sowie deren langfristige Planbarkeit für Investitionsentscheidungen eine besondere Rolle.“ Für die Papierindustrie in Deutschland sei es schwierig, im internationalen Preiswettbewerb zu bestehen. Neben anderen stabilen Rahmenbedingungen muss endlich ein wettbewerbsfähiger Industriestrompreis als Brückenlösung eingeführt und die Beibehaltung des Spitzenausgleichs für 2024 garantiert werden.

Die Bundesregierung müsse jetzt die Weichen stellen, damit Deutschland ein erfolgreiches und klimaneutrales Industrieland werde, ergänzt Yasmin Fahimi, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB). „Hochwertige Industriearbeitsplätze und starke industrielle Wertschöpfung wird es auch in Zukunft geben müssen. Dafür braucht die Industrie endlich Verlässlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit beim Strompreis“; so Fahimi weiter. Standort- und Tariftreue dürften dabei jedoch nicht außer Acht gelassen werden. „Bei allen Anstrengungen der Bundesregierung: Wir dürfen jetzt nicht auf halber Strecke stehen bleiben. Die Bundesregierung muss ihren Ankündigungen daher Taten folgen lassen und den Brückenstrompreis zügig umsetzen. Abwarten können wir uns schlicht nicht leisten.“


Michael Vassiliadis im Interview
Foto: © Stefan Koch
Brückenstrompreis
Gut angelegtes Geld

Die energieintensiven Industrien der IGBCE leiden unter der schwachen Konjunktur, schlechten Standortbedingungen und überhöhten Energiepreisen. Abwanderung statt Modernisierung bestimmt das Bild. Wir müssen bei den Rahmenbedingungen zurück auf Augenhöhe mit anderen Industrieregionen. Es braucht klare Signale, dass sich Investitionen in die Transformation der heimischen Standorte und die Weiterentwicklung guter Arbeitsplätze lohnen. Das beginnt mit einem fairen Strompreis für die Energieintensiven. Davon profitiert schlussendlich das ganze Land.  

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