Alle klagen über Fachkräftemangel – dabei gibt es unter Menschen mit Behinderungen ein riesiges Potenzial an Arbeitskräften. Darauf lenkte die Jahrestagung der Schwerbehindertenvertretungen der IGBCE 2023 den Fokus unter dem Motto „Mut zum inklusiven Arbeitsmarkt“.
Fast 150 Engagierte waren in die Hauptverwaltung nach Hannover gereist. „Ein richtig starkes Zeichen“, kommentierte Aline Rennebeck, die zuständige Fachsekretärin aus der Abteilung Sozialpolitik, Arbeits- und Gesundheitsschutz. Mit Applaus gratulierten die Teilnehmenden Birgit Biermann zu ihrer Wahl zur stellvertretenden Vorsitzenden der IGBCE in der Woche zuvor. In Richtung der Arbeitgeber zeigte sich Biermann kämpferisch: „Fachkräftemangel? Ja, aber ihr habt die Leute auch jahrelang liegen lassen.“ Das gelte für Schwerbehinderte ebenso wie für Frauen und für Jugendliche, die als nicht fit für eine Ausbildung betrachtet wurden.
Andrea Nahles, die Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, war per Video zugeschaltet und lieferte Zahlen und Fakten: 25 Prozent der Arbeitgeber, die gesetzlich verpflichtet sind, Schwerbehinderte zu beschäftigen, sind sogenannte „Null-Beschäftiger“: Sie kaufen sich mit einer Ausgleichsabgabe frei. 296.000 freien Pflichtarbeitsplätzen stehen 172.000 arbeitslos gemeldete Schwerbehinderte gegenüber. Dazu kommt eine vermutlich große Zahl von Menschen, die auf Jobsuche sind und ihre Behinderung nicht angeben, weil sie sich vor Diskriminierung fürchten. Hier sieht Nahles ein großes Potenzial, das ihre Mitarbeitenden den Arbeitgebern zu vermitteln versuchen. „Inzwischen hören sie zu“, beobachtet Nahles.
Woran es liegt, dass Schwerbehinderte und Arbeitgeber oft nicht zueinander finden, erklärte Birgit Biermann mit drei Mythen, die den Chefs Angst machen. Erstens: Schwerbehinderte wird man nie wieder los. Zweitens: Während einer Krankheit kann man nicht kündigen. Drittens: Jedem steht eine Abfindung zu. Als Juristin weiß sie, dass das alles nicht stimmt. Auf der anderen Seite existiert die Angst aber auch in den Köpfen von Arbeitnehmenden mit Behinderungen. Deswegen wählen die meisten von ihnen Jobs im öffentlichen Dienst. Kilian Roth, Gesamt-Schwerbehindertenvertreter der Evonik Industries, hält dagegen und geht gezielt an Förderschulen oder zum Blindenbund, um Nachwuchs zu gewinnen. Er ist überzeugt: Bei einem Praktikum merken die Jugendlichen und der Arbeitgeber selbst, was mit der Behinderung möglich ist und was nicht.
„Betriebe brauchen eine kreativere Einstellungspraxis“, forderte Jörg Bungart, der Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft für Unterstützte Beschäftigung e.V. „Job Carving“ nennt er die Technik, einen Arbeitsplatz für die jeweilige Person zu basteln: „Wo sind passende Tätigkeiten, die zu einem Arbeitsplatz zusammengesetzt werden können?“
Auch wenn das Instrument der Ausgleichsabgabe nicht perfekt ist, plädierte Birgit Biermann dafür: „Wir brauchen sie, solange wir nichts Besseres haben.“ Besser allerdings wäre es, wenn die Arbeitgeber aus Sorge um ihre Reputation Schwerbehinderte einstellen würden. Die Ausgleichsabgaben füllen die Fördertöpfe der Inklusions- und Integrationsämter. 88 Millionen Euro konnte Harald Kill vom Landschaftsverband Rheinland 2022 für die Inklusion in Betrieben ausgegeben. Kleine und mittlere Unternehmen, beobachtet er, wüssten oft gar nicht, wie viele Fördermöglichkeiten es gebe.
Die Fachleute stellten sich nach der Podiumsdiskussion den Fragen der Teilnehmenden. Viel Applaus bekamen Forderungen an die Arbeitsagentur nach festen Ansprechpartnern für die Betriebe und nach einem Kommunikationskanal zwischen der Agentur und den Schwerbehindertenvertretungen. „Eine Reorganisation der BA kriegen wir nicht hin“, bremste Nahles zunächst. Doch zum Schluss versprach sie, zahlreiche Anliegen mit nach Nürnberg zu nehmen: „Ich habe ganz viele Zettel vollgeschrieben.“
Das Engagement der Schwerbehindertenvertretungen soll sichtbarer werden. Deswegen wird auf der Jahrestagung 2024 erstmals ein Inklusionspreis verliehen, kündigte Birgit Biermann an. Schwerbehindertenvertretungen der IGBCE können sich bewerben.
Es gibt große Sorgen bei den Arbeitgebern, die Bedingungen für schwerbehinderte Mitarbeiter nicht zu erfüllen, was zum Beispiel Toiletten und Parkplätze angeht. Dabei unterstützten die Integrationsämter dabei. Ich mache seit Jahren konkrete Vorschläge. Aber da fehlt die Bereitschaft, sich in andere hineinzuversetzen.
Meine Arbeit hat sich in den letzten Jahren verändert. Früher war es einfacher, mit einer Erwerbsminderungsrente zu gehen. Heute will das gar keiner mehr. Ich arbeite viel mehr mit den Inklusionsämtern zusammen, um barrierefreie Arbeitsplätze zu schaffen. Inzwischen gibt es auch bessere Hilfsmittel.
Zusammen mit dem Betriebsrat habe ich unseren Geschäftsführer dazu gebracht, einen Tag im Rollstuhl zu verbringen. Der Deal war: Wenn er durchhält, darf er die barrierefreie Toilette zum Putzraum umwandeln. Nach drei Stunden war der Tag vorbei. Der Geschäftsführer wäre schon fast nicht ins Gebäude gekommen. Dann auf der normalen Toilette: Rien ne va plus!