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Sieben Prozent Plus

Eine Erhöhung der Einkommen um sieben Prozent und damit die Rückkehr zum Status Quo bei den Reallöhnen, will die IGBCE in der Chemie-Tarifrunde 2024 durchsetzen. Denn der Faktencheck zeigt: Dass es – wie die Arbeitgeber sagen – nichts zu verteilen gibt, stimmt nicht. Es geht langsam wieder bergauf in Chemie und Pharma.

Symbol Entgelterhöhung

Die Reallohnverluste der vergangenen Jahre brennen den Menschen auf den Nägeln. „Das haben die Diskussionen in den vergangenen Wochen eindrucksvoll belegt“, sagt IGBCE-Tarifvorstand und Chemie-Verhandlungsführer Oliver Heinrich und betont: „Wir müssen bei den Reallöhnen zurück zum Status Quo – nicht mehr und nicht weniger.“ Seit 2020 sei die Inflation stärker gestiegen als die Entgelte in der Chemie. „Um diese Lücke zu schließen, braucht es jetzt ein Plus von 7 Prozent.“ Genau das fordert die Bundestarifkommission für die diesjährige Tarifrunde. 

Heinrich bekräftigt, dass die Forderung die differenzierte Lage in den Unternehmen bereits berücksichtige. „In einer Industrie, deren Personalkosten lediglich ein Siebtel des Umsatzes ausmachen, wird das keinen Betrieb überlasten.“ Der Tarifvorstand warnt die Arbeitgeberseite davor, die Lage der Branche systematisch schlechtzureden und dadurch eine Verschärfung des Konflikts zu provozieren. „Wir erleben keine branchenweite Krise von Chemie und Pharma – wir erleben eine gesellschaftliche Krise aus Reallohnverlusten und fehlender Binnennachfrage“, so der IGBCE-Verhandlungsführer. „Wir müssen den Beschäftigten Kaufkraft und Optimismus zurückbringen und den Attraktivitätsverlust der Branche als Arbeitgeberin stoppen. Das geht nur mit mehr Geld und Wertschätzung – und nicht mit Schwarzmalerei.“ 

Denn glaubt man den Arbeitgebern, gibt es in dieser Chemie-Tarifrunde nichts zu verteilen. Wir haben ihre Argumente einem Gegencheck unterzogen, uns einige der vorgebrachten Thesen und Daten genauer angeschaut – und versucht, das ganze Bild der Branche und ihrer Entgelte zu zeichnen.  

Nichts zu verteilen? An Aktionäre schon  

Für die Arbeitgeberseite ist klar: Die chemisch-pharmazeutische Industrie stecke tief in der Krise, alle Kennzahlen zeigten auf Rot, „wo keine Zuwächse sind, können wir keine verteilen“.   

Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. In Wahrheit geht es bergauf. Langsam, aber spürbar. „Die Anzeichen für eine konjunkturelle Aufhellung haben sich deutlich verstärkt“, sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck kürzlich bei der Vorlage der Frühjahrsprognose. „Die Stimmung unter den Unternehmen in Deutschland hat sich verbessert“, berichtete der Präsident des ifo-Instituts, Clemens Fuest. Der monatlich erhobene Geschäftsklimaindex ist im April zum dritten Mal in Folge gestiegen und liegt so hoch wie seit gut einem Jahr nicht mehr.

Umsatzentwicklung in der chemischen Industrie
Foto: © IGBCE/Markus Köpp

Und das gilt nicht nur für die Gesamtwirtschaft, sondern auch für die Chemie- und die Pharmaindustrie. Die Nachfrage nach langlebigen Wirtschaftsgütern ziehe wieder an, so der Vorstandschef des Spezialchemiekonzerns Clariant, Conrad Keijzer. „Die chemische Industrie ist an einem Wendepunkt.“ In allen wichtigen Weltregionen sei in diesem Jahr wieder mit einem Wachstum zu rechnen – auch in Europa. 

Die Chemie-Produktion in Deutschland ist längst angezogen – im Februar lag sie nach jüngsten Zahlen des Bundesamts für Statistik 4,6 Prozent höher als im Vormonat, der saisonbereinigte Produktionsindex so hoch wie seit September 2022 nicht mehr. Die Marktforscher von FERI prognostizieren der Branche hierzulande ein reales Produktionsplus von 4,4 Prozent für 2024. Das zeigt auch das ifo-Geschäftsklima für die Chemie: Es hat sich seit Jahresbeginn stetig verbessert, die Geschäftserwartungen liegen besser als im industriellen Sektor insgesamt. Längst planen laut ifo mehr Chemie-Betriebe eine Produktionsausweitung als eine Reduzierung.

Noch deutlich besser ist die Stimmung in der Pharma-Industrie. Laut ifo zeigte sie zuletzt den optimistischsten Geschäftsausblick und die stärkste Produktionsausweitung aller Industriezweige. Nur in einer Branche war das Geschäftsklima noch besser als bei Pharma. „Mit jeder neuen Prognose entfernt sich die Krisen-Erzählung der Arbeitgeber ein Stück weiter von der Realität“, sagt Oliver Heinrich, Tarifvorstand und Chemie-Verhandlungsführer der IGBCE. Der Sozialpartner müsse endlich anerkennen, dass überzogenes Schwarzmalen und das Fabulieren von einer Nullrunde nur die Fronten verhärteten. „Die Arbeitgeber sollen den aufkeimenden Optimismus nicht abwürgen, sondern ihren Teil dazu beitragen, dass auch ihre Beschäftigten davon angesteckt werden. Denn sie sind es, die zuletzt schmerzhafte Reallohnverluste hinnehmen mussten.“ 

Im Jahr 2023 waren die Umsätze der Branche nach Angaben des Branchenverbands VCI noch um zwölf Prozent auf rund 230 Milliarden Euro zurückgegangen – aber selbst das war für die deutsche Chemieindustrie noch immer der zweithöchste Umsatz aller Zeiten. Das gilt übrigens auch für die Erlöse pro Beschäftigten. Heute erwirtschaftet jede und jeder Mitarbeitende in der Branche gut 481.000 Euro Umsatz pro Jahr und Kopf. Das ist in etwa so viel, wie zwei gut gehende Restaurants zusammen einnehmen. 

Wobei auch viele Konzernlenker längst positiver in die nahe Zukunft blicken. „Der Start ins Jahr war vielversprechend, und ich bin sehr zuversichtlich, dass 2024 ein wirklich gutes Jahr für Henkel wird“, sagte unlängst Konzernchef Carsten Knobel. „Wir bei Boehringer Ingelheim gehen mit großer Zuversicht in das Jahr 2024“, so Christian Boehringer, Vorsitzender des Gesellschafterausschusses. „Beiersdorf hat einen hervorragenden Start in das Jahr 2024 hingelegt“, so Konzernchef Vincent Warnery. Der Hamburger Nivea-Konzern hat prompt bereits die Umsatzprognose für das Gesamtjahr angehoben. Und der Essener Spezialchemiehersteller Evonik musste bereits die Kapitalmärkte „warnen“, dass er im ersten Quartal weit mehr Gewinn erzielt hat, als die Börsianer erwartet hatten. 

Auch ein erster Blick in die bislang vorliegenden Dividenden-Ankündigungen der in DAX und M-DAX notierten Konzerne, die nach Chemie-Tarifvertrag zahlen, zeigt: Von einem Dutzend Unternehmen schüttet lediglich eines keine Dividende aus, vier weitere haben sie – teils aus Gründen, die nichts mit dem operativen Geschäft zu tun haben – reduziert.  

Ansonsten aber herrscht bei den Branchengrößen mehrheitlich Konstanz auf hohem Niveau, ja sogar Feierlaune: Vier Unternehmen werden in diesem Frühjahr eine gleichhohe Dividende auszahlen wie für das Vorjahr. Drei Konzerne (Beiersdorf, Continental, Rheinmetall) heben sie sogar deutlich an. Beiersdorf wird zudem eigene Aktien zurückkaufen – ein klassisches Instrument, zu dem man greift, wenn man nicht weiß, wohin mit dem Geld.

Dividendenentwicklung
Foto: © IGBCE/Markus Köpp
Das bestätigt eine Tendenz, auf die die IGBCE schon vor Monaten hingewiesen hat. Die Lage in der chemisch-pharmazeutischen Industrie ist divers wie selten. Probleme hat vor allem die energieintensive Grundstoffchemie, dagegen laufen die Geschäfte bei vielen Pharma-Unternehmen und bei Markenartiklern glänzend. Man kann nicht alle über einen Kamm scheren und die Zukunft pauschal tiefschwarz malen.  

 „Spitzeneinkommen“? – Spitzenleistung!  

In die Irre führt auch die Arbeitgeber-Argumentation, die Beschäftigten in der Chemie hätten gar keine Entgelterhöhung nötig. Ihre Reallöhne würden in 2024 schon deshalb steigen, weil sie zu Jahresbeginn die zweite Erhöhung aus dem Tarifabschluss von 2022 bekommen hätten.  

Hier wird die Argumentation offensichtlich bewusst verkürzt. Richtig ist, dass die Tarifabschlüsse aus 2022 für die Gesamtlaufzeit der Vereinbarungen gerechnet werden müssen, also für die Zeit vom April 2022 bis Juni 2024. Und in diesem Zeitraum werden die Verbraucherpreise um gut 12,6 Prozent zugelegt haben, die Entgelte jedoch nur um 6,6 Prozent.  

Die Lücke konnte durch Einmalzahlungen wie die Inflationsausgleichsprämie zwar überbrückt werden. Deren Wirkung ist jedoch längst verpufft. Um aus dem Provisorium eine nachhaltige Anpassung der Entgelte zu machen, bedarf es genau 7 Prozent tabellenwirksamer Erhöhung, die die die Forderung der Bundestarifkommission vorsieht. Es geht also mindestens darum, die Reallohnverluste der vergangenen Monate aufzufangen. Kein Wunder also, dass IGBCE-Verhandlungsführer Oliver Heinrich von einer Empfehlung „mit Maß und Mitte“ spricht.  

Gern und regelmäßig tun die Arbeitgeber so, als wüssten die Chemie-Beschäftigten vor lauter Top-Verdiensten gar nicht, wohin mit dem Geld. Von einem „Spitzeneinkommen“ spricht der Arbeitgeberverband BAVC, im Vergleich zu anderen Branchen stünden die Beschäftigten „sehr gut da“. Tarifbeschäftigte erhielten im Durchschnitt 73.000 Euro im Jahr. Eine Zahl, die nur durch das Hereinrechnen übertariflicher Zulagen und von Schichtzulagen zustande kommen kann. Aus Sicht der IGBCE liegt der durchschnittliche Tariflohn in der Chemie bei 65.500 Euro pro Jahr. Das ist ein guter Wert und beharrlicher Tarifpolitik zu verdanken. Aber es ist alles andere als „Spitze“ – zumal andere Branchen in der jüngeren Vergangenheit aufgeholt haben.  

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